Mit den Gedanken stolpern
Gunter Demnig, Erfinder der Stolpersteine, im Interview
Fast 100.000 Stolpersteine hat der Künstler Gunter Demnig in den letzten 30 Jahren verlegt. Wie es zu diesem Projekt kam und was er zur Kritik an den Stolpersteinen sagt, erzählt er im Interview.
Erinnerungen wachhalten
Fast jeder und jede vierte Deutsche weiß laut einer Studie für eine ZDF-Doku nicht sicher, was genau der Holocaust ist. Das sind erschreckend viele. Um die Erinnerungen wachzuhalten, gibt's deshalb viele Projekte. Eines der bekanntesten: Die Stolpersteine. Erfunden hat sie der Künstler Gunter Demnig Anfang der Neunziger. Den allerersten Stein verlegte er in Köln vor dem Rathaus. Eine nicht ganz so legale oder genehmigte Aktion, wie er erzählt:
"Und dann haben wir eben mehrere Sinti- und auch ein paar Roma-Familien zusammengeholt, die haben sich auf die Treppen gesetzt und in der Zeit wo alle noch irgendwie aufgeregt waren, hab ich drei Steine rausgeholt. [...] [Die] hab ich aber dann vorsichtshalber zum Bürgermeister gebracht - ich wollte ja nicht wegen Diebstahls angezeigt werden. Es gab natürlich ein bisschen Ärger, aber dieser Stein, der wirklich der Prototyp Stolperstein war, ist jetzt Ziel der Stadtrundfahrten geworden." - Gunter Demnig
Jeder Stein wird per Hand angefertigt
Nach wie vor ist Gunter Demnig bei vielen Verlegungen vor Ort und setzt die Stolpersteine selbst in den Boden. Es wird auch jeder Stein per Hand gefertigt, das ist Gunter Demnig besonders wichtig.
"Die Steine werden nicht in einer Fabrik maschinell hergestellt, also gefräst, denn für mich... Auschwitz war eine Fabrik, eine Todesfabrik und deswegen ist für mich wichtig, dass jeder Stein handgefertigt ist [...] und eben jeder Mensch kriegt einen individuellen Stein, dass das wirklich auch zum Tragen kommt." - Gunter Demnig
Emotionale Verlegungen mit Familienzusammenkünften
Klar, die Anfertigung der Steine hat eher einen technischen Aspekt für den Künstler. Das Einsetzen der Steine vor Ort ist dann aber der Zeitpunkt, zu dem das Leid der Einzelnen nochmal so richtig bewusst wird. Vor allem dann, wenn Angehörige und/oder Nachfahren dafür anreisen - oft aus mehreren Ländern - und zum ersten Mal aufeinandertreffen.
"Drei Kontinente, fünf Länder, im Grunde kann man sagen 'vom Winde verweht.' Die hatten sich vorher noch nie getroffen. [...] Einmal - und das war wirklich extrem, die Steine waren verlegt und es standen sich zwei Grüppchen gegenüber - und dann sagte einer plötzlich: 'Ja, aber dann sind wir doch miteinander verwandt...irgendwie.' [...] Können Sie sich vorstellen, wie viele Taschentücher an dem Nachmittag verbraucht worden sind." - Gunter Demnig
Kritik an den Stolpersteinen
Über die letzten Jahre hat es aber auch immer wieder Kritik an den Stolpersteinen gegeben. Charlotte Knobloch, Holocaust-Überlebende und ehemalige Präsidentin den Zentralrats für Juden, sagte, man trete auf den Opfern mit Füßen herum. Auf die Nachfrage über diesen Kritikpunkt äußert sich Gunter Demnig so:
"Im Grunde werden damit die Opfer verhöhnt, denn die Nazis haben sich ja nicht begnügt mit rumtrampeln. Die Nazis hatten ein ganz gezieltes Mord-, ein Vernichtungsprogramm. Charlotte Knobloch hat ja selber mal bei einer Tagung [...] gesagt: 'Machen Sie die Steine. [...] Ich habe gemerkt, ich bin mit meiner ablehnenden Haltung sehr einsam.' Dr. Schuster, der jetzt der Präsident ist, hat schon mehrere Schreiben verfasst, wo er sich ganz ganz positiv zu den Stolpersteinen äußert. Und aus Yad Vashem hatte ich 2002 schon eine Mail: 'It's a wonderful project.'" - Gunter Demnig
Muss man Begriffe erklären?
Ein weiterer Kritikpunkt: Auf manchen Stolpersteinen stehen Begriffe wie "Gewohnheitsverbrecher" oder "Rassenschande", also Nazi- und Propagandabegriffe, mit denen die Nazis die grausamen Taten rechtfertigten. Gunter Demnig setzt sie in den Inschriften absichtlich in Anführungszeichen, um sich klar davon zu distanzieren. Trotzdem: Kann man heutzutage noch voraussetzen, dass jede*r weiß, was mit diesen Begriffen gemeint ist?
"Gerade die jungen Leute, die gehen einmal, nehmen ihr Smartphone und tippen das ein [...] und dann bekommen sie so viele Antworten. [...] Ich kann dazu sagen, ich hab mit Dr. Schuster zwei Stunden zusammengesessen. Wir haben über diese ganze Begrifflichkeit mal diskutiert, überlegt wie kann man es so machen, dass die Leute es begreifen, aber auch ins Denken kommen, denn für mich als Künstler: Kunst gibt keine polierten Antworten, Kunst soll Fragen stellen." - Gunter Demnig
"So etwas darf nie wieder passieren!"
Und: Die Stolpersteine lösen auf jeden Fall etwas in den Menschen aus, das merkt Gunter Demnig immer wieder:
"Also ich merke immer wieder in Schulen - ich hab ja auch öfter Vorträge in Schulen: Diese Fragestellung: 'Wie konnte so etwas im Land der Dichter und Denker überhaupt passieren?' Und dann natürlich der Schluss am Ende: So etwas darf nie wieder passieren! Und ich meine, wenn man das erreicht, dann hat die Arbeit ihren Sinn erfüllt." - Gunter Demnig