Die Rache der Schlafenszeit
Meinung: Ich will aber noch nicht schlafen...
Mittwochabend, 00:12 Uhr. Nein, ich hab morgen nicht frei und ja, ich wollte eigentlich noch duschen und genau, der erste Wecker klingelt morgen um 6 Uhr. Warum ich immer noch wach bin? Ich hab absolut keine Ahnung.
Die Krux
Tatsächlich ist das doch total irrational – man weiß ganz genau, dass man am Morgen so viel fitter ist, wenn man ein Stück eher ins Bett geht und trotzdem zögern viele Menschen das Einschlafen regelmäßig möglichst weit hinaus. Sei es nun der Streaming-Marathon (obwohl die Serie eigentlich nicht wirklich spannend ist), das ewige Scrollen durch Social Media oder auch das Zerreden beziehungsweise Zerdenken der letzten 24 Stunden. Obwohl man eigentlich abschalten kann und das mental und körperlich echt langsam an der Zeit ist, drücken sich viele Menschen bewusst vor dem Einschlafen. Es liegt nicht daran, dass man nicht einschlafen KANN oder Angst vor schlechten Träumen oder dem nächsten Tag hat. Es ist tatsächlich eine Frage des Willens. Ein bisschen fühlt es sich so wie die Hausaufgaben zu Schulzeiten an, die man auch möglichst lang vor sich hergeschoben hat und dann doch noch irgendwie in letzter Minute am Sonntagabend (oder am Montag in der Pause) zusammenschustern musste. Stichwort Prokrastination also? Japp, das gibt's auch beim Einschlafen und nennt sich Revenge Bedtime Procrastination.
Was ist Revenge Bedtime Procrastination?
Revenge Bedtime Procrastination - also frei übersetzt das Aufschieben der Schlafenszeit aus Rache - ist zwar kein neues Phänomen, aber in letzter Zeit immer wieder ein Thema. Es gibt drei Grundpfeiler dieses Phänomens, an denen du dich orientieren kannst. Denn eines vor weg - spätes Einschlafen kann viele Ursachen haben und in einigen Fällen ist es ratsam, sich professionelle Hilfe zu suchen. Von Revenge Bedtime Procrastination spricht man aber, wenn Menschen...
... das Einschlafen aufschieben und dadurch ihre Gesamtschlafzeit verkürzen,
... keinen Grund für den Schlafaufschub haben (zum Beispiel durch Krankheit oder Jetlag),
... ganz genau wissen, dass sie der fehlende Schlaf negativ beeinflussen wird, sie aber trotzdem ihre Schlafroutine nicht ändern.
Besonders betroffen sind laut der Sleep Foundation dabei Frauen, Studierende und Nachteulen (die nachtaktiven Menschen versteht sich, duh).
Viral gegangen ist der Begriff im Juni 2020, als die Journalistin Daphne K. Lee das Phänomen auf Twitter beschrieb:
Aber warum macht man so was offensichtlich sehr Bescheuertes?
Schließlich sagt man sich ja auch nicht, nachdem man sich versehentlich an der heißen Herdplatte verbrannt hat, "Verdammt, das tat sau weh, das mach ich doch glatt noch mal! :) ". Wem oder was gilt denn diese Rache, von der hier ständig die Rede ist? Die Antwort ist recht simpel: Es ist die Rache an deinem Tag. Viele Menschen, die sich der Revenge Bedtime Procrastination hingeben, haben häufig einen vollen und oft auch stressigen Uni-, Arbeits oder Alltag und es bleibt am Ende recht wenig Zeit für ein bisschen Freizeit, Spaß und Ablenkung. Also versuchen die Aufschieber*innen sich ein Stück Freizeit zurückholen und opfern dafür eben einen Teil von der Schlafenszeit. Klingt erst mal nach einer guten Idee, das Problem ist eben nur, dass wir eine bestimmte Zeit Schlaf brauchen, um uns komplett regenerieren zu können. Sprich, man rächt sich zwar am Abend für einen unausgeglichenen, vollen Tag, dafür rächt sich der Morgen dann aber auch für den Schlafmangel.
Es gibt übrigens zwei Arten des Schlafaufschubes
Einmal die hier bereits genannte Bedtime Procrastination (also dass du das Sich-ins-Bett-legen hinauszögerst) und einmal die While-In-Bed Procrastination (wenn du's zwar immerhin ins Bett geschafft hast, dort aber noch ewig liest oder auf dem Handy rumdaddelst). Letzteres hat vor allem durch die ansteigende Bedeutung von Social Media zugenommen. Auf lange Sicht hat der schleichende und vermeintlich harmlose Schlafentzug bei beiden Arten jedoch häufig physische und psychische Folgen.
Apropos Psyche - gibt es wissenschaftliche Erklärungen für das Phänomen?
Die Schlafforschung ist (leider) noch recht am Anfang mit der Untersuchung der Revenge Bedtime Procrastination und die Meinungen zur psychologischen Ursache gehen auseinander. Einerseits wird es der fehlenden Selbstkontrolle zugeschoben, denn Studien zu Folge ist diese am Ende des Tages meist sehr niedrig, sodass man sich gegen den "Rachegedanken", die Schlafenszeit zu opfern, nicht gut wehren kann. Andere wiederum argumentieren, dass es weniger mit Selbstbeherrschung zu tun hat, sondern viel mehr vom eigenen Biorhythmus abhängt. Nachteulen (immer noch die Menschen) sind in unserer heutigen Arbeitswelt oft dazu gezwungen, gegen ihren natürlichen Rhythmus zu arbeiten. Der 9-to-5-Job ist eben eher etwas für Frühaufsteher*innen. Um dann doch etwas Kontrolle in den Tagesablauf zu bringen, bleiben die Nachtaktiven dann länger wach...
Rache an der Pandemie
Auch wenn ich zum Prokrastinieren neige und ich am Abend eigentlich konzentrierter und aktiver bin als am Morgen und damit beste Voraussetzungen für die Revenge Bedtime Procrastination mitbringe, bin ich der Meinung, dass das Ganze noch einen anderen Grund hat. Der Elefant im Raum: die Pandemie. Laut einer Studie haben 40 Prozent der Menschen seit der Pandemie Probleme mit ihrem Schlaf. Das kann natürlich an allem Möglichen liegen: Zusätzlicher Stress und Aufgaben zu Hause (zum Beispiel wenn die Kinder plötzlich nicht mehr in die Schule gehen können und man zu Hause Homeschooling- und -office deichseln muss), mehr Stress auf Arbeit, Druck und Sorgen durch die Gesamtsituation und eben auch das Gefühl, man könnte das alles mit einer Extraportion Freizeit ausgleichen. Dadurch holt man sich (vermeintlich) ein Stück Kontrolle wieder, in einer Situation, in der wir sonst recht wenig Kontrolle haben.
Aber ehrlich gesagt finde ich das okay. Ich finde es okay, wenn man bis 0 Uhr in der Küche zusammen mit Bob Ross und einem Glas Rotwein das wohl kitschigste Bild der Welt malt. Und ich finde es okay, die Aufregung, die Konzerte mit sich bringen, durch ein spannendes Buch oder einen True Crime-Doku zu ersetzen. Und ich finde es okay, Urlaube durch spätabendliche kulinarische Kochexperimente zu ersetzen. Auch wenn diese "Mimimi - Ich will aber noch nicht schlafen" vielleicht auf manch eine*n ein bisschen kindisch wirkt - letztlich muss jede*r selbst entscheiden, was dem Köper gut tut und wo die Grenzen liegen.
Wenn du das Gefühl hast, du kannst dabei wirklich gerade in der jetzigen Situation abschalten und es gibt dir gerade ein bisschen Normalität und Ausgleich zurück, warum nicht?
Revenge Bedtime Procrastination ist sicherlich nicht die beste Bewältigungsstrategie, um mit dem Kontrollverlust im Alltag oder Stress umzugehen. Aber immerhin weißt du jetzt zumindest schon mal, mit was du es zu tun hast und kannst so auch genau drauf achten, dass der Schlafaufschub bei dir nicht komplett ausartet (und die Star Wars-Marathons bewusster einteilen...).
Was hilft gegen Revenge Bedtime Procrastination?
Da das Feld wie gesagt noch recht wenig erforscht ist und die Ursachen von Mensch zu Mensch variieren, solltest du dich vielleicht als erstes fragen - und sei dabei ganz ehrlich zu dir selbst - warum du nicht einschlafen möchtest. Wenn du deine Revenge Bedtime Procrastination ernsthaft reduzieren möchtest, können dir vielleicht einige dieser folgenden Tipps helfen:
Sieh Schlaf nicht als eine Aufgabe, die du zu bewältigen hast.
Priorisiere den Schlaf, indem du dir bewusst machst, warum ausreichend Schlaf wichtig für dich ist.
Informiere dich über das Thema Schlafhygiene, um die Qualität deines Schlafes zu erhöhen.
Blocke jeden Tag bewusst Zeit für dich und deine Interessen und um zu entspannen - und zwar mehrmals über den Tag verteilt.
Fang eher mit deiner Ins-Bett-Geh-Routine an und stell dir zum Beispiel den Wecker eine Stunde bevor du normalerweise unter die Dusche hüpfen würdest.
Leg das Handy weg, klapp den Laptop zu und versuch die am Abend eher mit analogen Dingen zu beschäftigen - ein kleiner Digital Detox sozusagen.
Achte bewusster auf die Signale, die dir dein Körper gibt, wenn du müde wirst und ignoriere sie nicht.
Sei direkt und sag nicht sowas wie z.B. "Ich versuche heute Abend um 10 Uhr ins Bett zu gehen", sondern sag dir stattdessen "Ich geh heute Abend um 10 Uhr ins Bett."
Sprich mit deinem*r Partner*in, Freund*innen oder Familie über dein Schlafensziel, sodass sie dich ermutigen können oder erinnern können oder du vielleicht auch etwas Druck hast, früher ins Bett zu gehen.
Behalte deinen Schlafrhythmus wenn möglich auch am Wochenende bei. Nur weil du morgen ausschlafen kannst, solltest du nicht bis drei Uhr nachts wach bleiben.
Kleine Schritte
Möglicherweise hilft es dir auch, erst mal mit kleinen Dingen anzufangen. Setzt dich nicht zu sehr unter Druck und sei dir bewusst, dass Revenge Bedtime Procrastination eine Gewohnheit ist, die du eben aber auch ablegen kannst.
In diesem Sinne: Ich gehe heute Abend um 10 Uhr ins Bett.